Eine Reise der ambivalenten Klänge

Winnyzja in der Ukraine ist seit April 2023 die Partnerstadt von Karlsruhe. Nachdem eine Delegation aus Winnyzja unter Leitung des dortigen Oberbürgermeisters Serhii Morhunov im Frühjahr nach Karlsruhe kam, um die Städtepartnerschaft zu besiegeln, hat sich Mitte Mai eine Karlsruher Delegation auf den Weg nach Winnyzja gemacht. Neben der erneuten Unterzeichnung der städtepartnerschaftlichen Vereinbarung war die Reise vor allem auch ein Zeichen der Solidarität gegenüber des neuen Städtepartners, in der aktuellen Situation des russischen Angriffskrieges. Ich war Teil dieser Delegation. Auf der Pressekonferenz der Stadt zu der Delegationsreise habe ich von den Erfahrungen und Eindrücken dieses besonderen Aufenthalts berichtet:

Mein Bericht zur Delegationsreise

Die Delegationsreise in unsere neue Partnerstadt Winnyzja, etwa 200 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Kyiw, war für alle Beteiligten eine völlig neue, sehr bewegende und inspirierende Erfahrung. Sie war zugleich eine Reise der ambivalenten Klänge.

Das dröhnendste, allgegenwärtigste und eindringlichste Geräusch, das uns auf unserem Weg durch die Stadt verfolgte, war das des russischen Angriffskrieges, der nunmehr seit über 470 Tagen in der Ukraine wütet. Winnyzja liegt fernab der Frontgefechte und dennoch ist der Kriegszustand in jedem Moment spürbar. Das schrille Heulen der Sirenen vom Dach des nahegelegenen Rathauses in der ersten Nacht, die hektische Suche nach dem Schutzraum im Keller des Hotels und das gemeinsame stundenlange Ausharren bis zur Entwarnung waren sicher einige der eindrücklichsten Erfahrungen unseres Aufenthaltes. Man konnte ansatzweise ein Gespür dafür erlangen, wie der Raketenterror Russlands gegen die ukrainische Zivilbevölkerung auch weit im Landesinnern den Alltag der Menschen bestimmt.

Die Gefahr des konstanten Raketenbeschusses ist in Winnyzja dank des Einsatzes westlicher Luftverteidigungssysteme mittlerweile eine deutlich geringere. Dennoch durften wir, begleitet von ukrainischem Militär, einen Ort inmitten der Stadt besuchen, dessen erdrückende Stille uns die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf die Menschen in Winnyzja verdeutlichte. Dort sahen wir die Trümmer eines ehemals gut besuchten Kulturzentrums, die zerborstenen Scheiben einer medizinischen Versorgungseinrichtung, den Einschlagskrater einer Rakete auf einem geschäftigen Platz und die schweren Schäden an den Gebäuden in weitem Umfeld. Im Juli des vergangenen Jahres wurden an diesem Ort mindestens 20 Menschen bei dem russischen Angriff mitten in das Herz der lebendigen Metropole getötet, darunter drei Kinder, deren Bilder um die Welt gingen.

Fotos: Sergo Spirit / Stadt Winnyzja

Äußerst bewegend war es auch, an verschiedenen Stellen den tiefen Schmerz und die gewaltige Wut der Ukrainer*innen über die Folgen des Krieges zu hören. Am Gedenkort für die Gefallenen im Zentrum der Stadt, wo wir gemeinsam mit unseren Gemeinderatskolleg*innen aus Winnyzja Blumen niederlegten, war all dies besonders spürbar. Auf einem Display werden Namen, Geburtsdaten und Fotos der Soldat*innen gezeigt, die bei der Verteidigung ihres Landes ihr Leben verloren haben. Nahezu täglich kommen neue hinzu, viele von ihnen kaum älter als Zwanzig.

Und doch sind es die womöglich widersprüchlich anmutenden Erfahrungen, die von unserer Reise den größten Nachklang haben werden: die inspirierende Resilienz und der Tatendrang der Menschen in Winnyzja, die beeindruckende Offenheit und die Gastfreundschaft, die uns zu jedem Zeitpunkt zuteil wurden. In vielen Gesprächen und Begegnungen durften wir den nahezu ungebremsten Gestaltungswillen der Ukrainer*innen für die gemeinsame Städtepartnerschaft erleben. Von zwei älteren Frauen, welche bei einem Rundgang durch einen städtischen Park überraschend auf die beiden Oberbürgermeister zustürmten und trotz Sprachbarriere in rührender Weise ihrer Dankbarkeit über den Besuch aus Deutschland Gehör verschafften, bekamen wir die große Herzlichkeit der Zivilbevölkerung zu spüren. Die vielen ausgelassenen, im Park spielenden Kinder, junge Erwachsene, die am Abend durch die Straßen zogen und ein Jugendlicher mit E-Gitarre, der den Platz vor dem bekannten Wasserturm mit einem Stück von AC/DC beschallte, offenbarten das blühende Leben in Winnyzja, dem die Schwere des Krieges in diesen Momenten merkwürdig fremd zu sein schien.

Die Verteidigung all dessen, was am öffentlichen Leben der Menschen in Winnyzja und anderen Städten so lebendig und erhaltenswert ist, geschieht eben nicht ausschließlich mit Waffengewalt, sondern drückt sich in einer zutiefst inspirierenden Haltung innerer Wehrhaftigkeit aus.

Doch letztlich ist es genau dieses Zusammenspiel der sich kontrastierenden Eindrücke, der ambivalent anmutenden Klänge, die ein umfassenderes Gefühl dafür vermitteln, was es ist, wofür die Ukrainer*innen in diesem Krieg kämpfen, wofür sie so große Verluste erleiden und was ihnen tagtäglich abverlangt wird. Die Verteidigung all dessen, was am öffentlichen Leben der Menschen in Winnyzja und anderen Städten so lebendig und erhaltenswert ist, geschieht eben nicht ausschließlich mit Waffengewalt, sondern drückt sich in einer zutiefst inspirierenden Haltung innerer Wehrhaftigkeit aus. Die aus Karlsruhe gelieferten Wärmeinseln, in denen im vergangenen Jahr zehntausende Bürger*innen der Stadt den Angriffen auf ihre Wärme- und Stromversorgung und der Kälte des Winters trotzten, haben die Ukrainer*innen „пункти незламності” – „Orte der Unbesiegbarkeit” getauft. Die Menschen in Winnyzja lassen sich nicht jeden Moment ihres öffentlichen Lebens vom russischen Angriffskrieg diktieren und begegnen der zerstörerischen Wut, indem sie ihre Stadt weiter gestalten, neue Partnerschaften eingehen und beeindruckende Solidarität mit ihren Mitmenschen in den Frontgebieten beweisen.

Die vielfältigen Eindrücke dieser ungewöhnlichen Delegationsreise geben nun den Takt für die Ausgestaltung der jungen Städtepartnerschaft zwischen Karlsruhe und Winnyzja vor. Während die humanitäre Unterstützung seitens der Karlsruher Stadtgesellschaft auf Hochtouren weiterläuft, ist bereits ein Austausch von Studierenden, eine Kooperation zwischen den städtischen Kliniken sowie den Hochschulen in Vorbereitung. Viele weitere Projekte werden folgen. Die Verbundenheit zu den Verantwortlichen in Winnyzja drückt sich auch durch die vielen Herausforderungen aus, vor die beide Städte gemeinsam gestellt sind: Eine moderne Stadtplanung mit neuen Verkehrskonzepten, digitale Formen der Bürger*innenbeteiligung und die Transformation des gesamten öffentlichen Lebens hin zur Klimaneutralität. Der gegenseitige Besuch städtischer Delegationen war, verbunden mit der Unterzeichnung des Städtepartnerschaftsvertrages, nur der Auftakt für eine Freundschaft, die es nun mit Leben zu füllen gilt und sich hoffentlich sehr bald in Frieden entfalten kann.

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