Ich hatte gestern das Privileg, in Vertretung des Oberbürgermeisters eine Delegation der Stadt Winnyzja in der Ukraine bei uns in Karlsruhe einen Abend lang zu begleiten. Der Austausch war unheimlich spannend und sehr bewegend. Ein paar Erfahrungen möchte ich mit euch teilen:
Der unbändige Durchhaltewille der Ukrainer*innen ist bewundernswert und macht demütig. Winnyzja wird, wie viele Städte in der Ukraine, von russischen Raketenangriffen terrorisiert. Die Ziele sind Kraftwerke, Strom- & Wärmenetze. Ca. 400.000 Menschen (darunter 40.000 Binnenflüchtlinge) werden im Winter der Kälte ausgesetzt sein. Halyna Yakubovych, die stellvertretende Bürgermeisterin, sagt dazu: „Das Frieren wird groß sein, aber unsere Wut ist größer!“ Sie ist fest überzeugt, dass die Menschen in der Ukraine auch im Winter standhalten. Dabei werden Generatoren und Wärmezelte helfen, die derzeit in Karlsruhe für den Transport nach Winnyzja vorbereitet werden.
Unsere Waffenlieferungen retten Leben. Mit Stolz berichteten die Verantwortlichen aus Winnyzja, dass mithilfe westlicher Flugabwehrsysteme in den letzten Wochen 36 von 40 russischen Raketen über der Stadt erfolgreich abgefangen werden konnten. Das erkauft ihnen Schutz für Menschenleben, ein Stück Normalität und vor allem Zeit, um ihre kritische Infrastruktur vor dem Winter weitestmöglich wiederherzustellen. Der Dank für den Beitrag Deutschlands daran ist groß.
In den Dank mischt sich aber auch Unverständnis über manche deutsche Befindlichkeit. Namen wie Precht und Wagenknecht sind in der Ukraine bekannt. Ihre „Debattenbeiträge“ kommen bei den Menschen an. Der Eindruck, der bei vielen Menschen in der Ukraine entsteht: Die Kreml-Propaganda hat auch in Deutschland ihr Sprachrohr gefunden.
Eindrücklich demonstrierten die Mitglieder der Delegation die Smartphone-App der Regierung, welche die Zivilgesellschaft vor Raketenangriffen warnt. Sie erklärten, was die App und andere kritische Kommunikationskanäle über Monate hinweg am Leben hielt: Starlink! Während wir auf Twitter und anderen sozialen Medien Debatten über einen exzentrischen Milliardär führen, hält die Satellitentechnik seines Unternehmens die Menschen in Winnyzja am Leben, indem sie Kommunikationskanäle sichert. Ich halte sonst nichts von Musk, aber diesen wichtigen Beitrag zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung müssen wir anerkennen.
Wir alle könnten Ukrainer*innen sein – sicher keine bahnbrechend neue Erkenntnis, aber mir wurde das zuvor nie so schmerzlich bewusst, wie gestern. Am Tisch saßen Kommunalpolitiker*innen wie ich, die erzählten, dass sie angetreten waren, um ihre Stadt lebenswerter zu gestalten, den Umbau zu erneuerbaren Energien umzusetzen oder Kitas und Schulen auszubauen. Stattdessen verbringen sie seit Monaten jede Stunde ihres Tages damit, die Folgen des russischen Vernichtungskrieges irgendwie zu managen, Kellerräume bewohnbar zu machen, Kinder im Umgang mit bestimmten Angriffen zu schulen (z.B. Phosphor-Streubomben) und für das Elementarste zum Leben für ihre Bevölkerung zu sorgen. Halyna Yakubovych sagt, man könne das alles überhaupt nur durch die tägliche Arbeit aushalten, weil sie davon abhält, über all die Kriegsgräuel länger nachzudenken.
Dann erzählen sie von den Berichten der Binnenflüchtlinge aus anderen Landesteilen: von den systematischen Vergewaltigungen, den Verstümmelungen und der Folter, den verschleppten Kindern, den Angehörigen, die sie persönlich verloren haben. „Wie kann man da verhandeln?“, fragen sie. Sie wären vor einem Jahr nie auf die Idee gekommen, ihr Militär zu loben, sich mit Waffen- und Satellitentechnik auseinanderzusetzen. Jetzt ist es ihr Alltag und das einzige, was zwischen ihrer Oblast und der Zerstörung durch die russische Armee steht.
Am Ende des Abends erhoben die Ukrainer*innen noch einmal ihre Gläser und erzählten von einer Tradition: Beim zweiten Anstoßen am Abend trinke man bei ihnen daheim als „Freunde“. Die tiefe Verbundenheit an diesem Abend war für alle spürbar. Winnyzja und Karlsruhe werden bald ihre Städtepartnerschaft besiegeln. Man spürt bereits: Das wird eine ganz besonders enge Beziehung. Ich hoffe, dass diese Verbundenheit zu den Menschen in Winnyzja uns daran erinnert, dass unsere Solidarität mit der Ukraine noch lange gebraucht werden wird, dass wir lernen, besser zuzuhören und uns unserer Verantwortung in der Welt bewusster zu werden – gerade dann, wenn diese von uns verlangt, unser Weltbild zu überdenken und manche zementiert-geglaubte Position zu räumen. Ich freue mich auf den Gegenbesuch in Winnyzia, sobald dieser möglich ist.
Slawa Ukrajini!